Von Bernhard Dotzler
ªDie Bibliothekswissenschaft´, kann man in Musils ªMann ohne Eigenschaften´ lernen, ªist eine Wissenschaft auch allein und f¸r sich´. Der rechte Bibliothekar, erf”hrt man n”mlich weiter, lese alle Kataloge, aber die B¸cher nie. Und so, hat Umberto Eco erg”nzt, als er 1981 den Festvortrag zum f¸nfundzwanzigj”hrigen Bestehen der Mail”nder Stadtbibliothek hielt, so also sind ªBibliotheken entstanden, die eher den Zweck verfolgten, das Lesen nicht zu erm–glichen, die B¸cher unter Verschluþ zu halten, sie zu verbergen.´ Es gibt Dinge, deren Wichtigkeit man erst bemerkt, entweder wenn sie einem fehlen, oder wenn man einmal darauf achtet, wie toll sie geschm”lt werden. Bibliotheken fallen unter beide Kategorien. Ein Glanzst¸ck von ¸bler Nachrede findet sic in Jacques Roubauds Roman ªDie sch–ne Hortense´. Die Bibliothek, heiþt es darin, sei ªdurch Gesetz und Gewohnheit verpflichtet, den Benutzern [...] das Nachschlagen in jenen B¸chern zu gestatten, die ihr Eigentum sind, ihr Ruhm, ihre Mitgift und ihr Schatz, und die sie in der d¸steren Stille der Magazine unaufh–rlich liebkost, betrachtet und bewundert.´ Aber Verpflichtung hin oder her, ihr ganzes Sinnen und Trachten gelte trotzdem oder deshalb ªVerteidigungsstrategien´, die es erm–glichen sollen, die B¸cher nicht herausgeben zu m¸ssen, um sie vielmehr vor den ªentw¸rdigenden Blicken´ aller ªUnwissenden´ zu bewahren, von denen sich ohnehin nur argw–hnen lieþe, ªdaþ es ihre geheime Absicht sei, sie zu besudeln, zu zerfetzen, zu verkratzen, zu besch”digen oder ganz einfach zu stehlen´. Also gestaltet die Bibliothek es so schwer wie nur irgend m–glich, ihre B¸cher ¸berhaupt erst einmal ausfindig zu machen. Statt den gesamten Bestand in einem einheitlichen Katalog zu verzeichnen, teilt sie diesen auf in etwa einen Alten und einen Neuen Katalog; und was sie in allerj¸ngster Zeit erst erworben hat, ist wom–glich weder hier noch dort zu ermitteln, sondern allein am Terminal aus der Datenbank zu erfragen, mit deren langfristig, versteht sich, auch auf die r¸ckl”ufige Erfassung der Best”nde abgezweckter Einrichtung gerade begonnen worden ist. Hinzu kommt das Verwirrsystem, daþ manche Signaturen nicht unmittelbar auf das Buch verweisen, das man freudig schon gefunden glaubte, sondern auf wieder einen anderen Katalog, den es zu konsultieren gilt, sei es um dort zu ¸berpr¸fen, ob der gesuchte Titel wirklich noch zu den existierenden Best”nden rechnet, sei es um dann erst die tats”chliche Signatur zu erhalten, denn k–nnte ja sein: ªdie erste Nummer war eine alte Nummer, die bei irgendeinem Herrschaftswechsel innerhalb des Bibliothekreichs zugunsten einer anderen, moderneren aufgegeben worden war´. Das ist die erste Schwierigkeit: ªdie sorgf”ltig verborgene Signatur des gesuchten Buches ausfindig zu machen´. Ist einem das aber endlich gelungen, st–þt man sogleich auf eine zweite Schwierigkeit. Die Bibliothek bleibt eine eifers¸chtige H¸terin ihrer Sch”tze auch, wenn es an die Buchbestellung geht. Sagen wir, der Bestellzettel ist seinen Weg gegangen und sogar schon die manchmal schier endlose Wartezeit verstrichen. Selbst dann wird man den erwarteten Band nicht gleich bekommen, um vielmehr durch eine von vielem m–glichen Entt”uschungen auf die Probe gestellt zu werden. Statt der ªGrundz¸ge der Bibliotheksgeschichte´ von Joris Vorstius und Siegfried Joost, 8. Auflage, Wiesbaden 1980, erh”lt man etwa eine kleine Brosch¸re vom Institut f¸r bakterielle Tierseuchenforschung Jena: ªJahresbericht 1990 mit einem historischen R¸ckblick´, Erlangen 1991, und erst ein Gang zur zust”ndigen Reklamationsstelle l–st das R”tsel, meist jedenfalls und in jedem Fall nur um den Preis, noch einmal auf das Ergebnis des nun neuerdings angezettelten Bestellvorgangs warten zu m¸ssen. Oder man bekommt gar nichts ausgeh”ndigt. Mit der Bestellung hatte alles seine Richtigkeit, aber das angeforderte Buch ist gerade irgendwo im Labyrinth bibliothekarischer Arbeitsg”nge in Bearbeitung. Oder es ist schon entliehen - f¸r eine Vormerkung bitte hier dieses Formular - oder gar nicht entleihbar, sondern nur im Sonderlesesaal zu benutzen, wof¸r jedoch wieder ein ganz anderer Vordruck h”tte ausgef¸llt werden m¸ssen... Kurzum, es gibt, mit Cort·zar zu reden, ªeine ganze Ordnung von Dingen, ¸ber die man nicht selbst entscheiden kann´, und das gilt ausgerechnet immer f¸r die l”stigsten Dinge. Freilich hat Cort·zar auch hinzugef¸gt, es seien das nicht unbedingt ªdie wichtigsten Dinge´, was zweifellos zutrifft, soweit man nur das Wort der Grimms ¸ber die B¸cher als ªMittelpunkt der Gelehrtenwelt´ assoziiert. Entsprechend hat eine Studie ¸ber ªWissenschaftliche Bibliotheken im Spiegel der deutschen Tagespresse´ einst ergeben, daþ diese vom Schicksal jener kaum Notiz nimmt. Und doch scheint nicht auszudenken, wie es zugehen sollte, wenn Bibliotheken ¸berhaupt von der Bildfl”che verschw”nden. Auch hat sich die Lage dahingehend ge”ndert, daþ erstaunlich viel ¸ber dergleichen Belange berichtet wird.
Denn immerhin so etwa kann man zugleich den Wert und die Desiderate des Bibliothekswesens in den Blick nehmen -, Bibliotheken sind die Antwort auf die erkenntnistheoretische Grundfrage aller Philosophie, nur nicht transzendental, sondern historisch-positivistisch gewendet. ªWas kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?´ So hatte Kant einst die Kernbereich philosophischen Denkens zur Trias zusammengefaþt. Bibliotheken verk–rpern den jeweiligen Stand der Dinge mit Bezug auf die erste Frage. ªSchatzkammern des menschlichen Geistes´, ªGed”chtnis der Menschheit´ zu sein, das ist oder war ihr unbestreitbarer Wert. Was aber soll man tun, worauf hoffen, damit den Bibliotheken diese ihre Bedeutung auch heute und zumal in Zukunft noch zukommen wird? Leicht wie die Karikatur der Miþst”nde f”llt auch die Zeichnung eines Idealbildes, gemessen am Stand des heute technisch M–glichen. Nehmen wir an, es bleibe zumindest die eine der beiden kulturellen Hauptaufgaben der Bibliotheken unver”ndert bestehen: ªAufbewahrung und Erhaltung des Schrifttums´. Was dann zu w¸nschen ¸brig l”þt, betrifft die andere Aufgabe, in der klassischen Formulierung von Vorstius/ Joost wie folgt zusammengefaþt: ªzweitens stellen sie das Schrifttum zur Verf¸gung und erschlieþen es durch zweckdienliche Einrichtungen. Sie dienen damit der H–herentwicklung der Menschheit.´ Nach wie vor ist oder w”re das Sch–nste, wenn diese Erschlieþung jene h–here, wenn nicht gar h–chste Zweckm”þigkeit erreichen k–nnte, die darin besteht, daþ der Benutzer unmittelbaren Zugang zu allen B¸chersch”tzen selbst bekommt. Das ist utopisch, keine Frage. Immer wird neben Leses”len und Freihandmagazinen auch jenes um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erstmals im British Museum eingef¸hrte ªstrenge Magazinsystem´ existieren, in dem die Best”nde im selben Maþ platzsparend aufbewahrt werden k–nnen, wie sie dabei eben unzug”nglich werden: Buchausgabe nur nach Bestellung. Aber das Warburg-Prinzip, daþ die inspirierendste Lekt¸re h”ufig genug neben dem durch gezielte Recherche ermittelten Band sich findet, hat zu viel f¸r sich, als daþ man leichtfertig davon Abschied nehmen sollte. Auch artikuliert sich am Ideal ein Aspekt, der nicht nur das Spannungsfeld zwischen Wunschtraum und Praktikabilit”t in Sachen Buchaufstellung, sondern die Frage der ªzweckdienlichen Einrichtung´ von Bibliotheken ¸berhaupt betrifft. Es geht um den Zugang ¸berhaupt zu B¸chern und Titeln, den Bibliotheken er–ffnen oder versperren. Welche Eing”nge haben sie abgesehen von den Pforten, deren ÷ffnungszeiten hierzulande auch fast ausnahmslos eher ein Trauerspiel darstellen als Idealzust”nde? Das Entree, zweifellos, bilden die Kataloge, und hier setzt ebenso zweifellos an, was an EDV-Modernisierung im Gange ist. Die Stichworte heiþen online-verf¸gbare Kataloge und Vernetzung. Statt zwischen Katalogb”nden, Zettelk”sten und Mikrofiche-Leseger”ten herumirren zu m¸ssen, will man am Computer sitzen, will dem Computer (fast) alle Sucharbeit ¸bertragen, und das m–glichst nicht nur an den Terminals in der Bibliothek, sondern genauso vom h”uslichen Schreibtisch aus, am eigenen PC. Der Zugang zu den B¸chern und Zeitschriften soll also so gestaltet sein, daþ der konkrete Gang in die Bibliothek von der ersten an die letzte Stelle r¸ckt, wenn es darum geht, gezielt Literatur zu beschaffen. Es braucht keine Wunder an M–glichkeitssinn mehr, um sich auszumalen, daþ man statt der vielen Zettelkataloge f¸r Autoren, Sachen, Standorte usw. nur einen EDV-Katalog konsultieren muþ, der zudem den Vorteil bietet, auch in anderer Hinsicht mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Man darf nur nicht den Fehler begehen, einfach ªGoethe´ oder ªM¸ller´ einzugeben, weil es im einen Fall zu viele Titel gibt, im anderen zu viele M¸llers, als daþ die in der Folge ¸ber den Bildschirm rauschenden Daten noch irgend faþbar w”ren. Aber schon die Kombination aus Autor und sonst einem Stichwort verspricht auch hier brauchbare Ergebnisse, und so kann man sich ausgefeiltere Suchmethoden ersinnen, die nicht zuletzt dann hilfreich sind, wenn man zwar ungef”hre Vorstellungen hat, im Grunde aber nicht genau weiþ, was man sucht. Selbst im einfachsten Fall allerdings, daþ Autor und Titel bekannt sind, w”re die gew¸nschte Online-Recherche nicht bloþ eine Verlagerung dessen, was herk–mmliche Bibliothekskataloge auch leisten, an den Computer. Zwar beginnt auch am Computer alles wie gewohnt; die Eingabe von ªGoethe´ und ªWahlverwandtschaften´ etwa liefert alle verf¸gbaren Ausgaben samt Standorten und Signaturen. Dar¸ber hinaus kann oder k–nnte man aber die so ermittelten B¸cher ebenso direkt am Computer gleich bestellen. Desgleichen m¸þte man nicht erst am Ausleihschalter erfahren, daþ die gew¸nschten B”nde nicht zu haben, weil schon entliehen sind. Der Computer vermag auch dies wie dazu die Leihfrist, die dem Vorg”nger noch bleibt bei der Recherche schon anzuzeigen und, je nach Wunsch, eine Vorbestellung zu registrieren oder auch nicht. So br”uchte man in der Tat nicht eher in die Bibliothek zu eilen, als bis man weitgehend sicher sein kann, daþ das Buch auch bereit liegt. In allen Groþst”dten, wo die Wege weit und der Bibliotheken mehrere sind, ein unsch”tzbarer Vorteil ausgerechnet in Berlin und M¸nchen, wo es so bedeutende Einrichtungen wie Staatsbibliotheken gibt, weiþ man ein Lied davon zu singen, wie es ist, dieses Vorteils nicht teilhaftig zu sein.
Ebenfalls daselbst scheint man freilich mit ganz anderen Problemen befaþt. Im Katalogbereich der Berliner Staatsbibliothek findet man seit einiger Zeit das Angebot, Bibliographien auf CD-ROM zu nutzen. Auch das, keine Frage, ist Teil der Informatisierung, die den Bibliotheken ins Haus steht. ªDas Buch der Zukunft ist rund´, wuþte Joachim Weidmann, Vizepr”- sident der Johann Wolfgang Goethe-Universit”t in Frankfurt a.M., als dort im Mai vergangenen Jahres ein ¸ber den Campus verteiltes Netz f¸r die CD-ROM-Recherche in Betrieb genommen werden konnte. Waren die Bibliotheken der beiden letzten Jahrzehnte Schrittmacher auf dem Weg in die, wie Eco sie nannte, ªXerozivilisation´ oder ªZivilisation der Fotokopie´, so k–nnten sie nun dieselbe Rolle f¸r die Kultur elektronischer Datenspeicherung spielen. Aber, zur¸ck in Berlins Staatsbibliothek, gerade die paar Computerarbeitspl”tze, die da nun also bereitstehen, zusammen mit der Anschlagtafel, die noch immer jede Benutzung ohne vorherige Einf¸hrung ausschlieþt, machen sinnf”llig, wie mit Verlaub k¸mmerlich die Situation in puncto Computerisierung doch ist. Deutschland, weiþ die j¸ngst erschienene ªKleine Bibliotheksgeschichte´ von Uwe Jochum, sei einmal f¸hrend gewesen ªin der Anwendung der EDV zu Bibliothekszwecken´. Das war Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, nachdem man nicht mehr vorrangig Kriegssch”den zu reparieren hatte, als Neugr¸ndungen wie die Universit”tsbibliotheken in Bielefeld, Bochum und Konstanz die Szene bestimmten. Und ginge es darum festzustellen, wie weit die Technologisierung des Bibliothekswesens mancherorts doch schon gediehen ist, man m¸þte sicherlich auf diese programmatisch der Neuerung gewidmeten Orte blicken. Berlin hat nun einmal mehr mit den ganz anderen Sorgen seiner geschichtlichen Rolle zu tun, weshalb es nicht verwundert, wenn die ªStaatsbibliothek Preuþischer Kulturbesitz´ derzeit nicht gerade durch k¸hne Visionen ihrer High-Tech-Zukunft, sondern auf dem eher verstaubt wirkenden Niveau sehr traditioneller bibliothekarischer Organisationsfragen von sich reden macht, die Zusammenf¸hrung und Neuauf- teilung ihrer beiden H”user am Potsdamer Platz und Unter den Linden betreffend. Eben deshalb ist aber der Blick auf die Berliner Situation vielleicht auch der lehrreichere, was n”mlich die Gemengelage der aktuellen Berichterstattung angeht. Auch wenn sie, anders als die BibliothËque Nationale f¸r den Roman eines Jacques Roubaud ebenso wie f¸r Frankreich ¸berhaupt, bei weitem nicht ªdie´ Bibliothek heiþen kann die Staatsbibliothek ist stellvertretend doch mindestens darin, daþ man f–rmlich zu sp¸ren glaubt, wie ein Aufatmen durch die Regale ginge, w¸rde nur endlich der ganze Apparat unter Strom gesetzt, w”hrend gleichzeitig die Zeit stillstehen soll: Man geht in die Bibliothek und man unterh”lt Bibliotheken -, nicht weil hier die Forderungen der Gegenwart in ihr Recht treten w¸rden, sondern im Gegenteil, weil hier die Geschichte lebt. Entsprechend zwiesp”ltig sind die Tendenzen, die sich an den in j¸ngerer Zeit geh”uften Meldungen beobachten lassen. Nat¸rlich h”ufen sich auch die euphorisch-euphorisierenden Ank¸ndigungen, daþ nun endlich doch die Vernetzung kommen wird. So machte im Oktober letzten Jahres ªSUBITO´ auf sich aufmerksam, eine ªBund-L”nder-Initiative zur Beschleunigung der Literaturund Informationsdienste´, die genau dies erreichen will: daþ die wichtigsten Bibliothekskataloge ab Ende 1996 elektronisch zug”nglich sind, und daþ dar¸ber hinaus auch die in den internationalen Datennetzen gef¸hrten elektronischen Publikationen abgerufen werden k–nnen. Ÿhnliche Meldungen gibt es auch auf regionaler Ebene, aus Hessen etwa, das in den kommenden zwei Jahren rund acht Millionen DM zu investieren versprach, um einen Katalog-Verbund der eigenen sowie einiger Bibliotheken in Rheinland-Pfalz zu installieren. Daneben mehren sich aber genauso die entt”uschenden Signale. Als die Hessische Landesbibliothek ihren letzten Jahresbericht pr”sentierte, waren es nicht nur das Recht und die Macht der Gewohnheit, wenn aus diesem Anlaþ einmal mehr ein Mangel an Platz, Personal und sonstigen Mitteln beklagt wurde, der die Umstrukturierung der Bibliothek in ein ebenso effizientes wie und weil modernes ªLiteratur- und Informationszentrum´ wo nicht verhindere, so doch zumindest verlang- same. Auf der letzten Jahrespressekonferenz der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverb”nde wurde gar das groþe ªBibliotheken-Sterben´ ausgerufen. Eine Sparpolitik, deren Kurzsichtigkeit auf keiner Ebene halt mache, untergrabe so hieþ es da schon allein den traditionellen Auftrag zur ªSammlung von Literaturdenkm”lern´, sprich: die systematische Pflege der Best”nde durch Neuanschaffungen und die Fortf¸hrung bestehender Abonnements auf Publikationsreihen und Zeitschriften. Wie w”re da noch an Investitionen f¸r den Zugang zu den Datennetzen der Gegenwart und Zukunft zu denken? Womit man wieder beim Thema w”re. Aber auch, das war die Provokation zum gegebenen Anlaþ, bei der Gegenfrage, wie es denn k”me, daþ ausgerechnet jetzt erst, zu Zeiten solcher Finanznot, dergleichen Begehren allgemein wird. Warum hat man die technologische Umstellung nicht l”ngst vollzogen, als die Mittel noch ausreichend flossen? Die Antwort liegt auf der Hand. Man will die Selbstverwandlung in moderne Serviceeinrichtungen des Informationsma- nagements, und man will sie auch wieder nicht und dieser Zwiespalt, ernst genommen, gibt den Blick frei auf eine symptomatische Lesart der Situation, die sine ira et studio nicht diesen oder jenen Schuldigen bezichtigt, sondern entziffert, worin eigentlich das Dilemma liegt: Um fortzubestehen auf der H–he der Zeit, m¸þten die Bibliotheken alles tun, sich selbst abzuschaffen. Am Horizont technischer Machbarkeit steht nicht allein, daþ man die Bibliothek nicht eher zu betreten braucht, als bis man das gew¸nschte Buch in Empfang nehmen kann, sondern daþ man ¸berhaupt nicht mehr hingehen muþ. Denn es soll und wird nicht dabei bleiben, daþ lediglich der leidige Papierkram Zettelkataloge, Leihscheine, Vormerkformulare: alles, wie gesagt, elektrifizierbar abgeschafft werden wird. Immerhin war die Einf¸hrung der Karteikarte die Innovation, die die ganze Moderne des Bibliothekswesens trug, seit 1877 die bis heute g¸ltige Kartennorm von 75 x 125 mm festgelegt worden war. Damit war man beim Optimum der Verwaltbarkeit von Papieren durch Papiere angekommen. Mit der Umstellung auf elektronische Schaltkreise dagegen - sollte nicht zu erwarten sein, daþ diese auch darauf hin streben, prim”r ihresgleichen zu verwalten? Hinzu kommt ein Aspekt, auf den Heinz von Foerster bereits 1970 einmal hingewiesen hat, als er n”mlich am Library Institute der University of Wisconsin laut ¸ber das Problem nachdachte: ªTechnology What Will it Mean to Librarians?´ Sie bedeutet, so Heinz von Foerster w–rtlich, die Infragestellung der ªIdee des Buches bzw. der mit ihm verwandten Formen der Dokumentation als des grundlegenden Vehikels der Wissensgewinnung´, weil mit der Verwandlung der Bibliotheken in moderne Informationssysteme immer weniger danach gefragt werden wird, wo die Antwort auf eine bestimmte Frage zu finden sei. Vielmehr wird man gleich wissen wollen: ªWie lautet die Antwort auf meine Frage?´ Anders gesagt, auch die Bibliothek der Zukunft wird sich ins Nirgendwo des vielberedeten Cyberspace verfl¸chtigen. Statt konkreter B¸cher wird sie deren Inhalte elektronisch bereithalten. Daþ aber dies einen denkbar folgeschweren Umbruch f¸r alle Bibliothekswissenschaft bedeutet, ist leicht zu ermessen. Es w¸rden ja Musil zum Trotz die Bibliothekare mit einemmal doch die B¸cher lesen m¸ssen, um sie der virtuellen Bibliothek einverleiben zu k–nnen. Auch w”ren eben immer weniger die B¸cher und immer mehr die elektronischen Dateien zu pflegen, was zweifellos soviel hieþe wie, daþ der rechte Bibliothekar an seiner Selbstaufhebung arbeiten m¸þte. Andererseits, und so vielleicht erkl”rt sich die gleichwohl bestehende Begehrlichkeit, ginge der sehns¸chtigste aller Bibliothekarstr”ume endlich voll und ganz in Erf¸llung. Die virtuelle Bibliothek darf und soll ihre Sch”tze h¸ten, ohne je auch nur ein Buch herausr¸cken zu m¸ssen.
(redigiert ver–ffentlicht zuerst in F.A.Z. vom 08.03.'95, Seite 37 unter Das Buch ist rund, und es reicht f¸r viele)
© bei Markus Krajewski und Harun Maye, Version 1.0, 20.10.1996.