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- URN zum Zitieren dieses Dokuments:
- urn:nbn:de:bvb:355-epub-319665
Dokumentenart: | Hochschulschrift der Universität Regensburg (Dissertation) |
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Open Access Art: | Primärpublikation |
Datum: | 13 Juli 2015 |
Begutachter (Erstgutachter): | Prof. Dr. Daniel Wolff |
Tag der Prüfung: | 16 Juni 2015 |
Institutionen: | Medizin > Lehrstuhl für Innere Medizin III (Hämatologie und Internistische Onkologie) |
Stichwörter / Keywords: | Patientenverfügung, Selbstbestimmung, Autonomie, advance care planning |
Dewey-Dezimal-Klassifikation: | 600 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften > 610 Medizin |
Status: | Veröffentlicht |
Begutachtet: | Ja, diese Version wurde begutachtet |
An der Universität Regensburg entstanden: | Ja |
Dokumenten-ID: | 31966 |
Zusammenfassung (Deutsch)
Die Debatte um die Patientenverfügung setzt sich auch nach dem Inkrafttreten des sogenannten Patientenverfügungsgesetzes am 1. September 2009 fort. Vor diesem Hintergrund wurde eine Analyse des spezifisch ärztlichen Diskurses um das Instrument der Patientenverfügung durchgeführt. Als empirisches Material dienten 71 publizierte Stellungnahmen von insgesamt 56 Ärzten in der medizinischen ...
Zusammenfassung (Deutsch)
Die Debatte um die Patientenverfügung setzt sich auch nach dem Inkrafttreten des sogenannten Patientenverfügungsgesetzes am 1. September 2009 fort. Vor diesem Hintergrund wurde eine Analyse des spezifisch ärztlichen Diskurses um das Instrument der Patientenverfügung durchgeführt. Als empirisches Material dienten 71 publizierte Stellungnahmen von insgesamt 56 Ärzten in der medizinischen Fachpresse, die im Rahmen zweier Recherchen in großen medizinischen Datenbanken identifiziert werden konnten. Zusammen konnten aus den Beiträgen 491 ärztliche Aussagen in die Analyse eingehen. Diese Aussagen wurden einer qualitativen Inhaltsanalyse mit induktiver Kategorienbildung unterzogen. Es handelt sich bei vorliegender Analyse um eine systematische Übersichtsarbeit.
Als besondere Frage an die publizierten Stellungnahmen der Ärzteschaft war gestellt, ob die Ziele des Patientenverfügungsgesetzes – nämlich das Selbstbestimmungsrechtes jedes Einzelnen stärken und für alle Beteiligten Rechts- und Verfahrenssicherheit schaffen – aus Sicht der Ärzte verwirklicht werden konnten. Es zeigte sich, daß laut der Ärzte ein Gewinn an Rechtssicherheit zu verzeichnen ist, dies insbesondere durch die im Gesetz geklärten Zuständigkeiten und Verfahrensabläufe.
Dem Anspruch des Gesetzgebers auf Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes muß seitens der Ärzteschaft ein negatives Urteil ausgestellt werden. Laut Aussagen der Ärzte und wissenschaftlicher Untersuchungen hat die Patientenverfügung wenig bis keine Relevanz auf die medizinische Behandlung (am Lebensende). Dies liege – je nach Profession – etwa an der Prognose als Entscheidungskriterium zur Therapiebegrenzung (Intensivmedizin), an der fehlenden Zeit (Notfallmedizin) oder am meist für alle Beteiligten absehbaren Krankheitsverlauf (Onkologie). Auch bei Patienten mit einer Demenzerkrankung wurde festgestellt, daß Therapieentscheidungen eher von anderen Kriterien bestimmt werden als den vom Gesetz vorgesehenen (Stichwort „natürlicher Wille“).
Darüber hinaus förderte speziell für die Intensivmedizin eine Studie Kurioses zutage: mit der Berücksichtigung der Patientenverfügung konnte nicht die Selbstbestimmung des Patienten, sondern lediglich der Dokumentationsaufwand für die Ärzte gesteigert werden. Dieses Ergebnis ist umso erstaunlicher, da doch die Patientenverfügung stets mit dem Anspruch versehen wurde, gerade am Lebensende vor dem Übergriff einer „Apparatemedizin“ schützen zu können. Weiter zeigte sich in einer anderen Studie, daß die Länge der Intensivbehandlung nicht divergierte zwischen Patienten mit und ohne Verfügung.
Für die fehlende Relevanz der Patientenverfügung auf Behandlungsentscheidungen spielen neben den genannten professionsspezifischen Gründen ebenfalls sachspezifische Gründe durch die Konstruktionsfehler des Gesetzgebers eine Rolle: aufgrund der fehlenden Aufklärungspflicht fehlt es der Patientenverfügung regelmäßig an der Kongruenz zur konkreten Lebens- und Behandlungssituation. Hierdurch wird die Patientenverfügung lediglich auf ein (gleichfalls verbindliches) Indiz für den mutmaßlichen Willen zurückgestuft. Diesbezüglich wurde an den Gesetzgeber die Forderung gerichtet, ein verpflichtendes Aufklärungsangebot zu etablieren.
Für den psychiatrischen Patienten scheint sich der mit der Patientenverfügung transportierte Anspruch auf Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes gar in sein Gegenteil zu verkehren: für diese Patienten folgt für den Fall einer akuten Krankheitsexazerbation aus dem neuen Gesetz eine eventuell inhumane Situation durch die mögliche Konsequenz eines „Einsperrens ohne Therapie“. Eine Lösung des Gesetzgebers wird daher für dringend geboten gehalten.
Fraglich ist, ob die genannten Probleme der Patientenverfügung mit dem Konzept des Advance Care Planning gelöst werden können. Untersuchungen aus den USA machen wenig Hoffnung, zumal kleine Erfolge mit jeweils hohem finanziellem und personellem Aufwand erkauft wurden. Möglicherweise könnten durch den Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung effektiver die Selbstbestimmung und die Patientenzufriedenheit gefördert werden.
Nicht zuletzt wirft die in dieser Arbeit vorgenommene Diskursanalyse auch ein erhellendes Licht auf die sich gerade im Gange befindliche Debatte um den (ärztlich) assistierten Suizid. Denn in der hier analysierten nachgesetzlichen Debatte um das Patientenverfügungsgesetz zeigte sich deutlich eine prinzipiell positive Einstellung der akademisch tätigen ärztlichen Kollegen gegenüber der gesetzlichen Lösung in Gestalt des Patientenverfügungsgesetzes. Möglicherweise ist es diese Einstellung, die im Rahmen der Debatte um die Suizidassistenz nun nahmhafte (ärztliche) Hochschullehrer – wie bereits beim Patientenverfügungsgesetz – wieder nach einem Gesetz zur Lösung des Problems rufen läßt.
Die in dieser Analyse erarbeiteten Ergebnisse können in eine Evaluation der neuen Gesetzeslage eingehen, wie sie bereits vom damaligen thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus in der Bundesratssitzung vom 10. Juli 2009 gefordert wurde – „damit der Gesetzgeber zeitnah nachbessern kann“.
Übersetzung der Zusammenfassung (Englisch)
The debate about “living will” also continues after commencement of the so-called “Living Will Act” (Patientenverfügungsgesetz) on 1 September 2014. An analysis of specific medical discourse concerning the instrument of living will was conducted against this background. 71 published opinions by a total of 56 physicians in the specialised medical press which could be identified in the course of ...
Übersetzung der Zusammenfassung (Englisch)
The debate about “living will” also continues after commencement of the so-called “Living Will Act” (Patientenverfügungsgesetz) on 1 September 2014. An analysis of specific medical discourse concerning the instrument of living will was conducted against this background. 71 published opinions by a total of 56 physicians in the specialised medical press which could be identified in the course of two searches in large medical databases served as empirical material. Altogether 491 medical statements from the articles could be examined in the analysis. These statements were subjected to a qualitative content analysis with inductive development of categories.
A particular question posed with regard to the published opinions of the medical profession was whether the objectives of the Living Will Act – namely to strengthen the right of self-determination of every individual and to establish legal and procedural security for all parties concerned – could be realised from the standpoint of physicians. It became apparent that according to physicians, a gain in legal security is to be gained, in particular through the responsibilities and procedural processes clarified in the act.
A negative opinion on the part of the medical profession must be issued regarding the claim of legislature to strengthening the right of self-determination. According to statements by physicians and scientific studies, the living will has little to no relevance to medical treatment (at the end of life). Depending on the profession, this is possibly due to the prognosis as a decision-making criterion for limitation of therapy (intensive care medicine), lack of time (emergency medicine) or mostly due to the foreseeable course of an illness (oncology) for all those concerned. Among patients with dementia it was also ascertained that therapeutic decisions are determined more by other criteria than that provided by law (heading: “natural will”).
In addition, a study conducted specifically for intensive care medicine brings curious aspects to light: not the patient’s self-determination, but merely the documentation effort for physicians could be increased with the consideration of living will. This result is all the more astounding because the living will was always provided with the requirement to be able to protect against the encroachment of “high-tech medicine”, especially at the end of life. In another study it was also shown that the length of intensive care did not diverge among patients with and without an advance directive.
In addition to the mentioned profession-specific reasons, factually specific reasons due to the constructional flaw of legislature also play a role with regard to the living will’s lacking relevance to treatment decisions: due to the lacking duty to provide clarification, the living will regularly lacks congruency for a specific life and treatment situation. As a result of this, the living will is merely relegated to a (likewise binding) indication of the supposed will. The requirement to establish an obligatory offer of clarification was directed at the legislature in this regard.
The claim to strengthening the right of self-determination transported with the living will even seems to have the opposite effect for psychiatric patients: in the event of an acute exacerbation of illness, an inhumane situation due to the possible consequence of a “confinement without therapy” for these patients follows from the new law. That is why a legislative solution is deemed urgently necessary.
It is questionable whether the mentioned problems of the living will can be solved with the concept of advance care planning. Studies from the USA render little hope, especially since minor successes have always been obtained with high financial and personnel expenditure. Self-determination and patient satisfaction could possibly be more effectively promoted through the expansion of palliative medical care.
Last but not least, the discourse analysis undertaken in this paper also casts an illuminating light on the debate about (medically) assisted suicide currently underway. Because a fundamentally positive attitude of academically active medical colleagues towards a legal solution is clearly shown in the post-legal debate about the Living Will Act analysed here. It is possibly because of this attitude that well-known (medical) university professors now again call for a law– as already with the Living Will Act – to solve the problem in the course of the debate about suicide assistance.
The results compiled in this analysis can be entered into an evaluation of the new legal situation, as it has already been called for by former Thuringian Minister President Dieter Althaus in the Bundesrat session on 10 July 2009 – “so that the legislature can promptly improve”.
Metadaten zuletzt geändert: 25 Nov 2020 15:35