Spätestens seit Ende des Kalten Krieges kommt der Erforschung des Phänomens Bürgerkrieg – nachdem es einerseits immer häufiger auftritt und andererseits die betroffenen Gesellschaften vor besonders komplexe Herausforderungen stellt – steigende Relevanz zu. In Kolumbien konnte der Konflikt, nach mehr als einem halben Jahrhundert massiver Auseinandersetzungen, in den letzten Jahren stark eingedämmt ...
Zusammenfassung (Deutsch)
Spätestens seit Ende des Kalten Krieges kommt der Erforschung des Phänomens Bürgerkrieg – nachdem es einerseits immer häufiger auftritt und andererseits die betroffenen Gesellschaften vor besonders komplexe Herausforderungen stellt – steigende Relevanz zu. In Kolumbien konnte der Konflikt, nach mehr als einem halben Jahrhundert massiver Auseinandersetzungen, in den letzten Jahren stark eingedämmt werden; eine gänzliche Beilegung ist angesichts von massenhaften Demobilisierungen und Friedensverhandlungen bzw. -verträgen in greifbare Nähe gerückt. Vor diesem Hintergrund hat eine, erstmals auch institutionell gestützte, Aufarbeitung der gewaltsamen Vergangenheit begonnen; es ist, wie auch in anderen Staaten seit der Jahrtausendwende, von einem regelrechten „Boom“ der Erinnerung die Rede. Das Land sieht sich vor der Aufgabe, diesbezüglich trotz einer Vielzahl divergierender Ideologien und Perspektiven eine kollektive Erinnerung zu konstruieren, die Grundlage einer nationalen Identität sein kann und das Risiko einer Wiederholung in der Zukunft mindern soll. Eine entscheidende Rolle spielt dabei im Kontext der globalen Konjunktur der Zeugenschaft und der lateinamerikanischen Tradition des Genres die literatura testimonial als Mittlermedium zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis sowie Vektor einer multiperspektivischen Erinnerung. Wenngleich die von ihr umfassten Werke alle die Aussagen realer Zeugen zur Grundlage haben, sind sie unweigerlich Ergebnis selektiver und manipulativer Prozesse, besitzen eine diskursive Funktion, die sich aus Form und Inhalt ableiten lässt. Die Dissertation analysiert erstmals anhand eines breiten Korpus, der über die letzten Jahrzehnte hinweg repräsentativ die kolumbianische Testimonialliteratur abbildet, diese Texte als das, was sie letztlich alle sind, nämlich Erzählungen. Die innovative Anwendung einer Methode aus der Literaturwissenschaft auf einen Korpus, der zu großen Teilen nicht in deren klassischen Gegenstandsbereich fällt, führt zu Erkenntnissen, die auch kulturwissenschaftlichen Wert haben: Narratologische Untersuchung und hermeneutische Interpretation verfolgen das Ziel, die diverse Funktionalität der Werke im Zusammenhang der kolumbianischen Erinnerungskultur zu erschließen und vergleichen. Damit leistet die Studie nicht nur einen Beitrag zum Verständnis der Ästhetik der literatura testimonial, sondern auch dem dieser spezifischen Kultur sowie der kulturellen Verarbeitung von Bürgerkriegen im Allgemeinen.
Übersetzung der Zusammenfassung (Englisch)
Since at least the end of the Cold War, research on the phenomenon of civil war - which on the one hand has become more frequent, and on the other implies particularly complex challenges for the societies concerned - is becoming increasingly relevant. In Colombia, after more than half a century of war, the conflict has been significantly curtailed in recent years. A total settlement has come ...
Übersetzung der Zusammenfassung (Englisch)
Since at least the end of the Cold War, research on the phenomenon of civil war - which on the one hand has become more frequent, and on the other implies particularly complex challenges for the societies concerned - is becoming increasingly relevant. In Colombia, after more than half a century of war, the conflict has been significantly curtailed in recent years. A total settlement has come within reach, in the face of mass demobilization and peace negotiations or treaties. Given these circumstances, a review of the violent past and true “memory boom” is taking place, for the first time also supported by governmental institutions. The country is facing the task of constructing a collective memory that, in spite of a multitude of divergent ideologies and perspectives, can form the basis of a new national identity and reduce the risk of repeating the past in the future. In the context of the global importance of testimony and the Latin American tradition of the genre, the literatura testimonial plays a crucial role as a mediator between individual and collective memory, and as a vehicle of multi-perspective memory. Although the oeuvres it encompasses are all based on the testimony of real witnesses, they are inevitably the result of selective and manipulative processes; and they possess discursive functions deriving from form and content. This dissertation analyzes for the first time a wide corpus of these texts as narrations. The innovative application of a literary studies method to this corpus that falls largely outside the classical subject area of literary studies, leads to findings that are also interesting for cultural studies: Narratological investigation and hermeneutic interpretation reveal the diverse functionality of the texts in the context of the Colombian culture of remembrance. Thus, the study contributes to the understanding of the aesthetics of testimonial literature, as well as to the understanding of that specific culture and the cultural processing of civil wars in general.